Es darf heute nicht darum gehen, was „uns“ in der Vergangenheit zusammengehalten hat, sondern ausschließlich darum, wie die Arbeit an einer Gemeinschaft der Zukunft möglich ist.
Hier habe ich behauptet, dass wir als Gemeinschaft auf Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mit Antworten aus dem 20. Jahrhundert reagieren dürfen. Dabei habe ich in den Raum geworfen, dass die politische Agenda der FPÖ insofern nicht zielführend sei, als sie sich ausschließlich abgelaufener Regeln und Normen bediene und damit einer fortschrittlichen Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft entgegenwirke. Die Folge: Das Machtstreben einer FPÖ, aber auch einer Front National, einer Schwedenpartei oder einer Vlaams Belang, dient ausschließlich dem Selbstzweck der Macht und damit dem eigenen Systemerhalt und letztlich der Selbstbereicherung – wie in Österreich ja bereits sehr kostenintensiv gezeigt wurde.
Im „Handbuch freiheitlicher Politik“ sind die Grundsätze der blauen politischen Agenda sehr umfangreich dargestellt. Der Leitsatz „Österreich zuerst!“ zieht sich als roter Faden durch das Manifest. Die FPÖ „bekennt sich zum Ziel, die Heimat, die autochthone Bevölkerung und damit die hiesige Leitkultur zu schützen“. Die FPÖ lehnt multikulturelle Parallelgesellschaften ab, aber viel mehr noch stellt sich die FPÖ gegen die Vermischung von religiösen und philosophischen Weltbildern. Weltfremd? Ja, sehr sogar. Im Wortlaut will man „den Tiefgang und die Weiterentwicklung unserer eigenen Kultur (…) ermöglichen“. Als Ziel stellt sich die FP-Führung nichts weniger vor, als „nach dem Prinzip der Minus-Zuwanderung in Österreich aufhältige Ausländer wieder in ihre Heimat zurückzuführen.“ Denn: Österreich sei jedenfalls kein Einwanderungsland.
In der Realität ist Österreich sehr wohl ein Einwanderungsland – der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund liegt heute bei rund 17%, in Wien gar bei 35%. Man kann das nun mögen oder auch nicht, aber Fakt ist: Die Migranten sind gekommen um zu bleiben. Sie sind nicht, wie in der Idee der Arbeitskräfteanwerbung der 1960er und 1970er Jahre vorgesehen, nach einer gewissen Zeit wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Ganz im Gegenteil, denn es herrscht nach wie vor reger Zustrom.
Doch geht es heute keineswegs nur um die klassischen angeworbenen Arbeitskräfte, sondern um eine erhöhte weltweite Mobilität allgemein – das betrifft sowohl Expatriates, als auch Arbeitsmigranten sowie Flüchtlinge. Österreich kann sich von den Dynamiken der Globalisierung in einer verflochtenen Welt nicht abkapseln. Globale Prozesse (höhere soziale Mobilität, Niederlassungsfreiheiten) und globale Risiken (Umweltkatastrophen, aber auch Migrationsströme aus heute gar nicht mehr so „weit entfernten“ Konfliktgebieten) und nicht zuletzt eine transnationale Ökonomie überschreiten nationalstaatliche Grenzen – auch unsere. Und das ist ein Umstand, der weder einfach wieder verschwinden wird, noch von einer nationalen Regierungspartei beeinflusst werden kann. Rechtspopulistische Parteien versteifen sich gerne mit einem „nationalen Blick“ an den Tatsachen der Realität. Die Kategorien Nation, Staat und Gesellschaft, wie sie im 18. Jahrhundert entworfen wurden, werden als naturgesetzlich dargestellt und es wird insofern versucht, auf neue und globalisierte Gesellschaftsprozesse mit veralteten Regelungsstrukturen zu reagieren.
Es ist schon nachvollziehbar, dass diese Zustände in der Bevölkerung Ängste verursachen. Angst vor Identitätsverlust, Angst vor Instabilität oder Angst vor dem Verlust der (nationalen) Zugehörigkeit. Doch sind es gerade diese Ängste, aus denen sich die Energie einer FPÖ speist. Das ist ein Teufelskreis, der in letzter Konsequenz vielleicht ins Nirgendwo führt, aber sicher nicht zur Verbesserung unser aller Lebensumstände beiträgt. Ein erster Schritt um diesen Ängsten zu begegnen ist die Akzeptanz der (neuen) Realität, und zwar abseits von einfachen Formeln, sondern auf einem möglichst objektivem Niveau. Ein zweiter Schritt ist die objektive Auseinandersetzung mit den Ängsten, den Bedürfnissen und den Herausforderungen, denen wir heute ins Auge blicken. Hierzu hat die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Gräf einen konstruktiven Kommentar geschrieben.
Wir dürfen zwar die Emotionen und Gefühle nicht ignorieren, wir müssen uns jedoch zuallererst mit Fakten auseinandersetzen: Sowohl Globalisierung, als auch Migrationsströme und vielmehr noch ein vereintes Europa innerhalb einer EU sind unwiderrufliche Prozesse. Sie sind zur Realität im 21. Jahrhundert geworden. Eine Neuaushandlung dieser Gegebenheiten bedürfe nichts weniger als einen dritten Weltkrieg – und ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das wollen. Es stellt sich also nicht die Frage, wie wir in das vemeintliche Paradies der 1970er Jahre zurückkommen, sondern wie wir auf die neue Realität adequat reagieren.
Der IST-Zustand ist eine Situation, in der verschiedene und durchaus heterogene Gruppierungen aufeinandertreffen. Heute gilt für uns als Gemeinschaft, ausgehend vom IST-Zustand, etwas Neues zu schaffen. Einwanderung sollte dabei nicht als Störung der vermeintlichen „nationalen Harmonie“ oder einer „Leitkultur“ verstanden werden. Unsere Normen und Regeln unterliegen einem kontinuierlichen Aushandlungsprozess und sind nicht starr oder gar naturgesetzlich. Auch die heutigen Probleme, die durch das Aufeinandertreffen der verschiedenen Gruppen ja tatsächlich entstanden sind, sind nicht starr und können (und werden) sich wandeln – es ist nur eine Frage der Herangehensweise. Auf den Punkt gebracht, darf es heute nicht darum gehen, was „uns“ in der Vergangenheit zusammengehalten hat, sondern ausschließlich darum, wie die Arbeit an einer Gemeinschaft der Zukunft möglich ist.
Der deutsche Journalist und Migrationssforscher Mark Terkessidis entwarf den Begriff der „Interkultur“, um auf die Probleme der Gegenwart zu reagieren. Uns fehlt das Selbstverständnis als Einwanderungsland und damit ein fortschrittliches Konzept, das es uns erlaubt, eine heterogene Gemeinschaft zu steuern. „Fremd im eigenen Land“ zu plakatieren handelt dem jedenfalls zuwider. Der Begriff der „Integration“ stammt aus den 1970er Jahren und suggeriert, dass es eine „Normalität“ definierende Mehrheitsgesellschaft und eine mit Defiziten ausgestattete Minderheit gebe. Letztere muss sich dieser Defizite entledigen, sie muss sich integrieren, um an der Normalität der Mehrheitsgesellschaft teilhaben zu können. Doch die Beziehung zwischen Mehrheit und Minderheit wandelt sich stetig und Anpassungen passieren automatisch auf beiden Seiten. Adaptionen haben aber zuvorderst bei unseren staatlichen Institutionen zu passieren – hin zu einer umfangreichen“sozialen Inklusion“ abseits nationalistischer Kategorien. Wir müssen erkennen, dass wir in einem gemeinsamen Lebensraum leben, wobei wir weniger auf die Vergangenheit und viel mehr auf die Zukunft Rücksicht nehmen müssen. Den Nationalstaat Österreich als „unser exklusives Land“ zu begreifen (unser Land, unsere Regeln), ist dafür nicht gerade förderlich, ja sogar kontraproduktiv.
Wir kommen auch nicht weiter, wenn wir uns auf diese vermeintliche „Leitkultur“ versteifen, die die FPÖ „schützen“ möchte. Zuerst: Welche Kultur soll das sein? Die städtische, die ländliche, die meiner Eltern, meiner Großeltern, meine? Eine homogene Kultur mag vielleicht noch auf ländliche Gebiete zutreffen, doch im urbanen Raum ist sie nur noch schwer zu finden. Der Stadt-Land Unterschied ist diesbezüglich nicht zu übersehen. Die Kultur meiner Eltern unterscheidet sich heute maßgeblich von meiner, da wir anderen Einflussfaktoren ausgesetzt sind. Aber mehr noch unterscheidet sich meine Kultur wahrscheinlich genauso stark von der Kultur eines Gleichaltrigen im ländlichen Raum. Bereits hier treffen durchaus heterogene Gruppen aufeinander. In meinem ehemaligen Dorf bin ich quasi auch ein Ausländer. Die Existenz einer integrativen, österreichischen Kultur mag ein Andreas Gabalier zwar vorgaukeln, zutreffen tut das halt nicht. Wir sollten uns jedoch an der zur Normalität gewordenen Pluralität orientieren, um Lösungen für ein harmonisches Zusammenleben zu finden. Wir sollten uns als „Diversity“-Gesellschaft begreifen und entsprechende Normen und Regeln finden – gemeinsam. „Daham statt Islam“ wird uns hier nicht einen Millimeter weiterbringen. Sehr wohl gibt es Orientierungspunkte: Die Grundpfeiler unserer europäischen Identität sind Vernunft, Säkularimus, Demokratie, Toleranz und Pluralismus, um auf den Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas zu verweisen. Habermas sieht diese Säulen als Stützen der „kulturellen Moderne“ und gleichzeitig als Grundprinzipien eines „höherstufigen politischen Gemeinwesens“ – der Europäischen Union. Knüpfen wir daran an. Wie können wir von aus teilweise autoritären Systemen stammenden Migranten erwarten, diese Grundprinzipien sofort zu verinnerlichen, wenn wir uns von einer Partei den Diskurs diktieren lassen, die keineswegs für eben diese Grundsätze eintritt?
Der Soziolge Ulrich Beck hat den Begriff „Weltrisikogesellschaft“ geprägt, der die globalisierte Welt im 21. Jahrhundert ganz gut beschreibt. „Die Weltrisikogesellschaft erzwingt den Blick auf die Pluralität der Welt, die der nationale Blick ignorieren konnte. Globale Risiken eröffnen einen moralischen und politischen Raum, aus dem eine über Grenzen und Gegensätze hinweggreifende zivile Kultur der Verantwortung hervorgehen kann“, schreibt Beck. Im heutigen (erwzungenen) „kosmopolitischen Moment“ sitzen wir alle in einem gemeinsamen Erfahrungsraum, und der hat weder einen Ausgang, noch kennt er die nationalstaatlichen Grenzen. Ein Selbstverständnis darüber würde uns nicht nur gut tun, sondern uns insgesamt als Gemeinschaft weiter bringen.
Eine FPÖ, Front National oder Vlaams Belang hat es jedenfalls nicht auf einen gemeinsamen Fortschritt abgesehen, denn damit würden sie sich selbst abschaffen.
Wollen wir eine Partei um ihrer selbst willen erhalten, oder wollen wir versuchen, eine lebenswerte Zukunft für alle zu gestalten?