Rot29

Die Ticketmaschine spuckt einen kleinen, roten Wartezettel mit der Nr. 29 aus. Aus Mensch wird Rot29, der sich plötzlich in einem Warteraum wiederfindet. Das Zimmer gleicht einem Vorraum beim Arzt. Die Zeitschriften, die Info-Brochüren, ein Getränkeautomat: Alles da. In der Hand eine Zahlen-Farbkombination, die das Leben in ein Davor und ein Danach trennen könnten.

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Rot29 ist jedoch nicht beim Arzt, sondern bei der Wiener Aids-Hilfe am Gumpendorfer Gürtel. Er pilgert zum HIV-Test. Rot29 macht einen Routine-Check, will vergangene Handlungen nicht zu zukünftigen Fehlern werden lassen. Wie auch immer der Anlass, Rot29 ist jetzt da, lässt sich testen. Der letzte ist schon eine Weile her. Noch in einer anderen Stadt, wo alles eine Spur einfacher war.

Um Rot29 herum sitzen rund 50 Menschen zwischen 20 und 40 Jahren, hier und da mit bedrücktem Gesicht, aber großteils so routiniert wie beim Hausarzt. Das Mädel neben Rot29 liest den Radtzkymarsch von Joseph Roth während sie wartet. Sie verströmt einen leicht modrigen Kellergeruch. Gegenüber vergräbt sich eine Frau unter ihrer riesigen Gucci-Sonnenbrille, den Schal bis zur Nase hochgezogen. Scham? Aus der Ecke nimmt man ein schwules Pärchen wahr, mal laut kichernd, mal einfach händehaltend und an die Decke starrend.

Immer wieder springt die Tür zum Nebenzimmer auf und ein Zivildiener ruft „Rot23“ oder „Blau33“. Die Roten werden getestet. Die Blauen holen die Ergebnisse ab. Bis Rot29 endlich aufgerufen wird vergeht eine volle Stunde. Das Infogespräch ist kurz und knapp. Die Optionen: Kostenloser HIV-Test, in einer Woche abzuholen. HIV-Schnelltest, 26 Euro und heute noch fertig. Rot29 entscheidet sich für Option Nr. 2, will nicht wieder mit der 18er hierher reisen und stundenlang warten. Rot29 wird jetzt ergänzt durch W117675 und einem einfachen feb16, danach geht es zurück zu den Wartenden.

Rot29 liest das Profil, blättert in der News und starrt ins Smartphone bis nach einer weiteren Stunde seine Kennung wieder durch das Wartezimmer hallt. Diesmal ist es die Ärztin, die den Kandidaten zum Test ruft. Jetzt wird es ernst. Rot29 wird in ein schmuckloses Arztzimmer geführt. Ein Schreibtisch, ein Stuhl daneben, am Tisch bereits die notwendigen Utensilien vorbereitet. Ein vertrautes Bild, tausend mal gesehen. Rot29 hasst Nadeln in seinen Venen und erspart sich das Prozedere aufgrund des Schnelltests. Der wird einfach mit einem Fingerstich gemacht – Blutzucker-like. „Der Test ist sehr hysterisch“, sagt die Ärztin. Mit hysterisch meint sie überempfindlich – sicher ist sicher. Rot29 solle sich deswegen keine Sorgen machen. Wenn der jetzt positiv sei, hieße das noch lange nicht, dass Rot29 zu einem von den jährlich rund 400-500 HIV-Neuinfektion in Österreich gehöre. Rot29 vergießt sein Blut auf einem Teststreifen und wird mit einem lapidaren „Jetzt haben Sie eine halbe Stunde Zeit, dann wissen wir Bescheid“ wieder aus dem Raum geschickt.

Rot29 war bisher recht cool und hofft grundsätzlich das Beste. Jetzt muss er jedoch sofort seine Drogensucht befriedigen und findet sich zwei Minuten später am Gürtel wieder, heftig an einer Zigarette saugend. Auf drei Spuren rasen die Autos vorbei, gegenüber ist ein Polizeieinsatz in der U-Bahnstation Gumpendorfer Straße. Rot29 denkt daran was sein könnte, aber nicht sein muss. Rot29 sinniert über Wahrscheinlichkeiten und erinnert sich an Vergangenes. Rot29 dämpft die Tschick aus und sitzt bald wieder neben dem Mädchen mit der großen Brille und dem Schal unter der Nase. Die hat jetzt auch ein Pflaster am Finger. Ro29 weiß Bescheid, muss lächeln. Der Mittzwanzigerin ist es sichtlich unangenehm.

„Rot29“ ist wieder lautstark zu hören. Der Zivi ist wieder da und führt den Kandidaten in einen dritten Raum, hinten, neben der Stiege. Vier Sessel, ein runder Tisch, in der Mitte eine große, mit vielfärbigen Durex-Kondomen vollgepackte Schale. Der Zivi kommt sofort zum Punkt. „Alles in Ordnung“, verkündet er die frohe Botschaft und überreicht Rot29 eine feierliche Urkunde. Untersuchungsergebnis: negativ. Rot29 steckt ein goldenes Durex ein, wirft den kleinen roten Zettel neben der Ticketmaschine in den Mülleimer und nimmt erleichtert seine alte Identität wieder an.

Infos, Testzeiten und Adressen: www.aids.at

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