Die NATO-Intervention in Libyen 2011: Ein völkerrechtlicher Krimi?

Libyen 2011. Nach 7,5 Monaten beendet die NATO ihre Luftschläge gegen den libyschen  Staatsapparat. Die Rebellen zogen erfolgreich in Tripolis ein und Langzeitdiktator Muammar al-Gaddafi wurde nicht nur gestürzt, sondern auch gleich an Ort und Stelle erschossen. Die Welt fand sich plötzlich mitten in einem völkerrechtlichen Krimi wieder. Was war geschehen?

Foto: Yuri Kozyrev. 1st price singles, World Press Foto Contest 2012

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Oberst Muammar-al Gaddafis letzter Akt sorgte in der internationalen Gemeinschaft für viel Wirbel. Der eigenwillige und wandlungsfähige Despot war Freund und Feind des Westens zugleich. Schwang er als junger Revolutionsführer noch Brandreden gegen die ehemaligen Kolonialisten und unterstützte linksextreme Gruppierungen in ganz Europa, so wich der jugendliche Kampfgeist mit zunehmenden Alter dem pragmatischen Ruf der Petro-Dollars. Der einstige Staatsterrorist wandelte sich gleichsam vom Saulus zum Paulus und wurde zum zuverlässigen Partner der europäischen Elite, nicht nur in der Ölversorgung, sondern auch in der Abwehr der über das Mittelmeer strömenden Flüchtlingsmassen. Einem dramatischen Abgang konnte sich der „König der Könige“ dennoch nicht entziehen, lauerte man doch insgeheim bereits auf eine Gelegenheit, den „Verrückten zurück in die Wüste“ zu schicken. Mit dem arabischen Frühling 2011 war dieser Moment gekommen.

Trotz der relativ hohen Position auf Platz 53 im Human Development Index und einem relativen Wohlstand im Land, formierte sich im Fahrwasser der Aufstände in Nordafrika auch Widerstand im Ölstaat Libyen. Gewiss war die Zusammensetzung der Aufständischen und die strukturellen Voraussetzungen für einen Umsturz in Libyen anders als in den restlichen nordafrikanischen Staaten, der Oberst aus Tripolis antwortete dennoch mit schwerem Gerät und versuchte die Rebellion im Keim zu ersticken. Schutzverantwortung für seine Bürger zu übernehmen sieht jedoch anders aus und der große Moment der „Responsibility to Protect“ (R2P) war gekommen. Die internationale Gemeinschaft war dennoch sehr darauf bedacht, aus der Intervention keinen völkerrechtlichen Präzedenzfall werden zu lassen.

Wie ist der NATO-Eingriff unter Resolution 1973 (2011) vor dem Hintergrund der R2P zu bewerten?

Betrachtet man die Kriterien für eine humanitäre militärische Intervention im Sinne der R2P, dann waren die formellen Voraussetzungen für ein militärisches Eingreifen seitens der Staatengemeinschaft großteils gegeben. Es wurde sowohl eine „gerechte Sache“ (Abwehr eines möglichen Verbrechens gegen die Menschheit), als auch eine „rechte Intention“ (Schutz der Zivilbevölkerung) von einer „legitimen Autorität“ (dem UN-Sicherheitsrat) formuliert. Auch wurde mit der vorangehenden Resolution 1970 versucht, diplomatische Mittel zur Lösung der Libyen-Frage auszuschöpfen, wenn auch etwas halbherzig und in Anbetracht des Drängens Frankreichs auf militärische Schritte etwas fragwürdig. Was die „verhältnismäßigen Mittel“ angeht, so wird auch mit den „all necessary means“ (Wortlaut Resolution 1973) durchaus von einem legitimen, und für den Sicherheitsrat nicht unüblichen Mandat gesprochen, das Handlungsspielraum offen lässt. Auch wenn man das „vernünftige Ergebnis“ im engeren Sinne mit dem erfolgreichen Schutz der Zivilbevölkerung (in Bengazi) gleichsetzt, trifft das auf die Intervention in Libyen zu. Der Teufel liegt jedoch bekanntlich im Detail.

Eine rein humanitäre Intention für einen militärischen Eingriff ist fast nie gegeben. Derartige Eingriffe sind kostspielig und die Hintergründe mannigfaltig. Michael Walzer bringt es in seinem Buch „Just and unjust wars“ auf den Punkt: „States don’t send soldiers to other states, only in order to save lifes.“  Auch der gerechte Grund ist bei einem Eingriff in einen Bürgerkrieg fraglich, jedenfalls wenn es keine konkreten Beweise für Massaker oder gar Völkermord gibt. Ob man von verhältnismäßigen Mitteln und einer Ultima Ratio sprechen kann, wenn man jegliche Verhandlungsoptionen, auch wenn sie den Diktator am Thron belassen, ausschlägt, sei dahin gestellt. Letztlich ist das Abdriften eines ehemals relativ stabilen Staates in einen failed state alles andere als ein reasonable outcome.

Ob mit dem eingetretenen und anscheinend intendierten Regimewechsel der Zweck durch die Mittel geheiligt wurde, darüber sind sich weder Völkerrechtler noch Politikwissenschaftler einig. Die Gefahr eines länger andauernden innerstaatlichen Konflikts ist jedoch bei einem „foreign imposed regime change“ sehr wahrscheinlich, was wiederum zurück zum Kriterium des „reasonable outcome“ führt. Der Verdacht liegt jedoch sehr nahe, dass man sich mit einem Regimewechsel eines unbequemen Despoten entledigen wollte und die Chance dazu auf der Welle des arabischen Frühlings ergriff. Barack Obama, Nicolas Sarkozy und David Cameron waren sich schon im April 2011 einig: Gaddafi must go, and go for good.“

Trifft ein intendierter Regimewechsel zu, dann war die Intervention in Libyen, trotz Rückhalt durch den Sicherheitsrat, ein klarer Völkerrechtsbruch und eine Missachtung der obersten Prinzipien internationaler Staatlichkeit: Dem Gewaltverbot nach Artikel 2 (4) und dem Interventionsverbot nach Artikel 2 (7) der UN-Charta. Durch die Einmischung in seine inneren Angelegenheiten wurde demnach die territoriale Integrität und die Staatssouveränität von Libyen verletzt. Aufgrund der internationalen und kontroversen Wellen, die der Eingriff geschlagen hat, und aufgrund des Bedachts, dass hier kein Präzedenzfall für die R2P geschaffen werden sollte, ist sicherlich nicht davon auszugehen, dass die Intervention in Libyen eine generelle Relativierung des Interventionsverbots nach sich zieht. Im Gegenteil: Dem Konzept der Schutzverantwortung und der Bedeutung von Souveränität als Verantwortung für seine Bürger, hat die Intervention eher geschadet als genutzt. Der russische Außenminister Sergey Lavrov äußerte sich 2012 sehr deutlich: „Russia would never allow the Security Council to authorize anything similar to what happend in Libya.“[1]

Das Hauptproblem bei humanitären Interventionen und Menschenrechtsverletzungen mit Genozidalcharakter ist sicherlich jenes der objektiven Beurteilung.[2] Retrospektiv betrachtet war „(…) Qaddafi’s crackdown (…) much less lethal than media reports indicated at the time. (…) from February 2011, when the rebellion started, to mid-March 2011, when NATO intervened, only about 1000 Libyans died, including soldiers and rebels.[3] Insofern könnte Libyen für lange Zeit ein Sonderfall bleiben, wie auch die Haltung der internationalen Gemeinschaft gegenüber Syrien zeigt.

Was man jedenfalls im Blick behalten muss, ist die Doppelmoral und der knallharte Realismus des Westens bezüglich der Aufstände im Zuge des arabischen Frühlings. „While NATO’s intervention in Libya was heralded as evidence of the West’s relatively advanced ethical foreign policy, the response to Bahrain points to a more mendacious Realpolitik.“[4] Auch Michael Walzer weist auf diese Doppelmoral hin und schreibt in Bezug auf die Repression in Libyen: „Watching the repression wouldn’t be easy (though we seem to have no difficulty doing that in Bahrain and Yemen).“[5] Um den Aufstand der Bevölkerung in Bahrain niederzuschlagen, wurden vom Golfkooperationsrat Truppen entsandt. Ein Vorgehen, das seitens der USA nur milde kritisiert wurde. Die Antwort des Westens auf den Arabischen Frühling war grundsätzlich sehr inkonsistent. Der Verdacht liegt nahe, dass Europas Interesse am arabischen Frühling zwei Begründungen hat: die Eindämmung der Flüchtlingswelle und den sicheren Zugang zu den Ölfeldern der Region.[6]

In diesem Licht erscheint die Intervention in Libyen paradox, da doch Muammar al-Gaddafi beides bediente: Er war sowohl ein verlässlicher Öllieferant, als auch ein willkommener Schützer der Flüchtlings-Front am Mittelmeer. Doch entgegen der Eigeninteressen gaben die westlichen Staaten ihre Präferenz für die relative Stabilität der arabischen Autokraten nicht gerne zu. Man könnte behaupten, dass der Zwiespalt zwischen Menschenrechtsschutz und Eigeninteresse zu höchst selektiven Antworten auf die Aufstände führte.[7]

Die Folgen für die Staatlichkeit Libyens

In Jahr 2012 erklärte der damalige NATO Oberkommandant in Europa, James Stravidis: „NATO’s operation in Libya has rightly been hailed as a model intervention.“

In der Tat schienen die USA einen Hattrick eingefahren zu haben: den arabischen Frühling fördern, ein zweites Ruanda verhindern und Libyen als potentielle Quelle für Terrorismus zu eliminieren. Doch rückblickend betrachtet war die Intervention in Libyen fatal. Der Staat hat es nicht nur nicht geschafft, sich zu einer Demokratie zu entwickeln, Libyen hat sich vielmehr in einen instabilen Staat entwickelt und ist heute ein safe haven für Milizen von Al-Quaida bis zum Islamic State of Iraq and al-Sham (ISIS). Problematisch: Libyen dient heute als Paradebeispiel dafür, wie eine humanitäre Intervention sowohl für die Intervenienten, als auch für die Intervenierten nach hinten los gehen kann. Bei demokratischen Wahlen im Juli 2012 kam zwar eine moderate und säkulare Koalition an die Macht, aber das Land schlittert zusehends in den Abgrund. Der erste Premierminister hielt sich gerade einmal einen Monat im Amt.[8]

Was heute de facto in Libyen Realität ist was die Wiener Politikwissenschaftlerin Irene Etzersdorfer als „Neuen Krieg“ definiert: „Charakteristika der neuen Gewaltstrategien sind stark asymmetrische Konfliktlagen, in welchen Elemente des konventionellen Krieges, des Guerillakrieges, des Bürgerkrieges, der Bandenkriminalität, des transnationalen Verbrechens und des Terrorismus zu finden sind.“[9]

Da der Staat nicht in der Lage ist, ein Gewaltmonopol durchzusetzen, verliert er dieses wieder an die Gesellschaft. Im Konflikt verschwimmen die Grenzen zwischen der egoistischen Bereicherung der Kriegsparteien und den politischen Motiven. Ungeordnete, chaotische und irrationale Akteure werden dominant und es tritt eine Entstaatlichung und Reprivatisierung der Gewalt ein. Als häufige Ursache sieht Etzersdorfer die Desintegrationsprozesse, die mit dem Zerfall zentralistischer und autoritärer Strukturen einhergehen.[10] All das trifft heute auf Libyen zu. Hinzu kommt, dass durch Gaddafis Politik der „Abwesenheit des Staates“ in Libyen nach der Revolution wesentliche staatliche Strukturen fehlten, an die eine neue Regierung anknüpfen hätte können. Gaddafi personalisierte geradezu jeden Aspekt des Staates auf seine Person: Er übersah alle informellen Netzwerke, aus denen der Staat quasi bestand.[11] Ein „institutionelles Chaos[12] ist die Folge.

Genaugenommen kann man davon ausgehen, dass Libyen, wie es heute besteht, seine staatliche Souveränität, sowohl im staats-, wie auch im menschenzentrierten Verständnis, nach innen, wie auch nach außen, verloren hat. Souveränität wird heute als einen Staat nach innen und außen konstituierender Herrschaftsanspruch verstanden, der in seinem Handeln ein unabhängiges, gegenüber anderen Staaten prinzipiell gleiches Subjekt auftritt. Des Weiteren kann nur von einem souveränen Staat gesprochen werden, wenn er die Jellinek’sche Trias auf sich vereinen kann: Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. All diese Eigenschaften, und insbesondere das nach innen gerichtete Gewaltmonopol, lassen sich heute auf Libyen nicht mehr anwenden.

Insofern, und auch bezugnehmend auf den Fragile State Index 2015, kann davon ausgegangen werden, dass Libyen im Jahr 2015 zu einem „failed state“ geworden ist, der, auch im politikwissenschaftlichen Sinn, „seine Funktionen nicht erfüllt bzw. erfüllen kann, insbesondere jene der Sicherheit und der Versorgung seiner Bürger mit sozialen Grundleistungen.“[13] Hinzu kommt eine Informalisierung der Herrschaft, parallel zum Zusammenbruch der modernen staatlichen Institutionen.[14]

Ein gescheitertes Libyen hat für die internationale Gemeinschaft verheerende Folgen. Unkontrollierte Grenzen, die Abwesenheit eines staatlichen Gewaltmonopols und die Überflutung des Staates mit Waffen, ziehen Terroristen und Jihadisten aus der ganzen Welt an. Sollte der Staat Libyen endgültig kollabieren, hätte das fatale Folgen nicht nur für den gesamten nordafrikanischen Raum, sondern auch für Europa. Insofern liegt es wahrscheinlich nicht nur an den Libyern selbst, ihre Herausforderungen zu meistern, wie John Kerry im Jahr 2014 meinte. Oder würde erst ein kollabiertes Libyen eine Herausforderung für die internationale Gemeinschaft darstellen?

Paradoxerweise schließt sich der Kreis zur Schutzverantwortung für das Volk. Der Aspekt der Souveränität, den die R2P einfordert und der eigentlich durch eine externe Intervention wiederhergestellt werden sollte, ist heute nicht mehr gegeben. Vielleicht wäre, wenn schon interveniert wurde, ein Eingriff mit Bodentruppen besser gewesen? Die Lage im Irak oder in Afghanistan spricht dagegen. Sowohl ein „foreign imposed regime change“ als auch die Verbreitung der Demokratie mit militärischen Mitteln hat noch nie zum Erfolg geführt.

 

Literatur:

[1] Sergey Lavrov, zitiert in: Kuperman, Alan J. (2015): Obama’s Libya Debacle, in: Foreign Affairs Ausgabe März/April 2015

[2] Vgl. Herdegen, Mathias (2008): Völkerrecht, C.H. Beck, München, S. 245

[3] Kuperman (2015): Obama’s Libya Debacle

[4] Hehir, Aidan (2013b): The Responsibility to Protect as the Apothesis of liberal Teleology, in: Hehir/Murray (2013): Libya: The Responsibility to Protect and the Future of Humanitarian Intervention, Palgrave Macmillan Verlag, Basingstroke, S. 44

[5] Walzer, Michael (2011): The wrong intervention, in: Dissent Magazine vom 21.3.2011

[6] Vgl. Walzer, Michael (2011): The wrong intervention, in: Dissent Magazine vom 21.3.2011, S. 44

[7] Vgl. Roth, Kenneth (2012): Time to abandon autocrats and embrace rights, in: Human Rights Watch: World Report, Events of 2011, S. 7

[8] Vgl. Kuperman (2015): Obamas Libya debacle

[9] Etzersdorfer, Irene (2007): Krieg, Eine Einführung in die Theorie bewaffneter Konflikte, Böhlau Verlag, Wien, S. 115

[10] Vgl. ebd., S. 115 ff

[11] Vgl. Engel, Andrew (2014): Libya as a failed state, Causes, Consequences, Options, in: The Washington Institute for Near East Policy: Research Notes Number 24, November 2014, S. 21

[12] Lacher, Wolfram (2013): Bruchlinien der Revolution, Akteure, Lager und Konflikte im neuen Libyen, SWP-Studie, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, S. 7

[13] Nohlen, Dieter (2010): Lexikon der Politikwissenschaft, S. 247

[14] Vgl. ebd.

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